POIESIS UND PRAXIS DER DINGE
Unser Alltag ist angehäuft und umgeben von gestalteten Dingen. Der Umgang mit diesen - ihre Nutzung, Abnutzung, Umnutzung - kennzeichnet unser alltägliches Handeln. Wie aber steht der Entwurf und die intentionale Hervorbringung (Poiesis) zur tatsächlichen Nutzung, zum handelnden Umgang (Praxis)? Wie können Fragen des Designs mit Fragen der materiellen und historischen Kulturforschung vereint werden? Was können die einen von den anderen lernen?
Über die Grenzen der Gestaltbarkeit von Alltag
Für unsere Alltage sind maßgeblich Dinge verantwortlich. Wir gebrauchen sie, verbrauchen sie, eignen sie uns an und eignen sie um, wir sprechen ihnen Werte zu und entwerten sie, reihen uns in die Dingwelt ein und sortieren Dinge aus. Alltage verstehen zu wollen, ist also zu einem wesentlichen Teil darauf angewiesen, unseren Umgang mit Dingen zu verstehen. Womöglich könnte man beides sogar gleichsetzen und sagen: Alltage verstehen heißt unseren alltäglichen Umgang mit Dingen zu verstehen. Diese Perspektive scheint zunächst eine beschreibende, Alltage erkennen wollende Haltung zu implizieren. Daneben gilt aber für viele dieser Dinge, dass sie das Ergebnis gezielter und bewusster Gestaltung sind. Es handelt sich im Grunde bei jedem massengefertigten Produkt um ein Designartefakt. Wenn nun Dinge und Alltage so eng miteinander verzahnt sind, dass das eine Verstehen zu wollen, ein Verstehen des Anderen meint, so drängen sich die Fragen auf: Wie sehr ist der Alltag selbst ein (komplexes) Designprodukt? Ist Alltag gestaltbar? Können Designerinnen – in einem weiten Sinne – indem sie Artefakte hervorbringen auch Alltage gestalten? Von Seiten eines weitverbreiteten Selbstverständnisses in Designdisziplinen und ebenso deren Werbeversprechen scheint diese Frage klar: Natürlich gestalten Designerinnen Alltage. Laut Designtheoretikern wie Friedrich von Borries entwerfen sie die ganze Welt (von Borries: Weltenentwerfen; 2016).
Wir sind da misstrauischer – nicht zuletzt, weil wir den allzu werberischen Ton in der populären ‚Designtheorie‘ kennen. Ist es nicht vielmehr so, dass das ‚Design‘ als poietische Kunst gewissermaßen da endet, wo die Dinge als Ware in die Welt entlassen werden – das intentionale Entwerfen anhand von Ideen, Konzeptionen und konkreten Arbeitsaufträgen nimmt seinen Weg über das Problematisieren, Suchen und Finden, Ordnen und Formen und entlässt eine Ware in eine Welt. Die platonische Schriftkritik, wonach mit dieser letztlich Gedanken als Waisen in die Welt entlassen werden, die sich von ihrem Urheber entfernen und auf seinen Schutz nicht mehr zählen können, greift auch für die designte Dingwelt. Ein Gedanke, welcher der Designtheorie spätestens seit den 1980er Jahren nicht mehr fremd ist. Der Mathematiker und Designtheoretiker Horst Rittel beispielsweise hält in dieser Zeit fest, dass Design mit der Festlegung auf einen Plan, welcher ausgeführt werden soll, endet (Rittel: Planen, Entwerfen, Design; 1992). Das Designte kann – und muss – angeeignet werden und wird dabei immer wieder transformiert. Vielleicht ist das der Grund, warum Objektbiografien häufig erst nach dem poietischen Design für die materielle Kulturforschung interessant zu wer-den scheinen und in Gesellschaften des Massenkonsums in diese poieti-schen Phasen auch nicht zurückkeh-ren (Hahn: Materielle Kultur; 2014). Es sind oftmals die Biografien verwaister Dinge. Poiesis und Praxis – Hervorbringung und handelnder Umgang – liegen scheinbar nicht nur nacheinander, sie scheinen sich nicht zu berühren. Sollte dem so sein, so ist die ohnehin überzogene Hoff-nung, mit Design die Welt zu ver-bessern (u.a. Welzer/Sommer: Transformationsdesign; 2017, Banz: Social Design; 2016), nicht nur übertrieben, sondern endlich ad acta zu legen.
Foto: Sebastian Lock aus der Serie с днём рождения!: In der 2012 gestarteten Langzeit-Fotoserie, deren Name aus dem Russischen übersetzt ›Alles Gute zum Geburtstag!‹ meint, dokumentiert Sebastian Lock den alltäglichen Umgang mit Dingen sowie übliche Rituale seiner verschwägerten Familie. // sebastianlock.de @seblock
Die Tagung diskutiert mit interessierten Ethnologen und Designtheoretikerinnen, materielle Kulturforscherinnen und Historiker, Sozialwissenschaftlerwissenschaftler und Philosophinnen die Fragen nach dem Verhältnis von Poiesis und Praxis in den Dingen des Alltags auf zwei Ebenen: Zum einen auf einer theoretischen, methodologischen oder begrifflichen Ebene, zum anderen aber auch auf der Ebene von konkreten Fallstudien.
Fragen welche sich stellen:
Wie steht die Alltagsforschung (u.a. materielle Kulturforschung, Ethnologie, Soziologie) zu Fragen der Gestaltbarkeit von und mit Dingen? Sollte man das Design des Kugelschreibers, wie er benutzt wird, was wie damit auf welchem Trägermaterial geschrieben wurde oder das immaterielle ›Dazwischen‹ ansehen? Und wenn alles wichtig scheint, in welcher Reihenfolge und mit welcher Aufmerksamkeit?
Wie groß ist der Einfluss der Gestaltung und die Formgebung eines Dinges auf seine spätere Aneignung, Wertzuschreibung, Handhabung oder das an diesen Dingen ausgerichtete Verhalten? Reicht das Spektrum von einer determinierenden Formgebung (die Allmacht des Designs/Entwurfs?), über Konzepte des Nudging, über historische Transformationen und kontinuierliche ›Re-Designs‹, bis hin zum bloßen ›Trial-and-Error‹ oder gar zur potentiell radikalen Freiheit der Alltagshandelnden?
In welchem Grad gestaltet umgekehrt das Verhalten und Alltagshandeln die Gestaltung und ist dieser Prozess dann am Ding ablesbar? Woran sehe ich einem designten Hocker an, dass er für Arbeiterinnen gemacht wurde, wenn er nur in Eigentumshäusern von Chefs steht?
Welche Rolle spielen die designerischen Teilkünste sowohl in Fragen der Möglichkeit Alltage zu gestalten als auch in den konkreten Alltagspraktiken: Gibt es etwa eine Kunst des Auffindens (ars inveniendi), eine Kunst des Verbindens (ars combinatoria), eine Kunst des Zerlegens (ars analytica) oder eine Kunst der Beurteilung (ars iudica-ndi)?
Können etwa biografische Objekte als ›storytelling devices‹ (Hoskins: Biographical objects; 1998) auch bewusst hergestellt werden?
Neben diesen eher theoretischen Fragen werden auch konkrete Fallstudien besprochen, welche den ›ganzen Weg‹ gehen: von der Poiesis zur Praxis der Dinge – und zurück.